Das zweite Thema des neuen Blogparaden-Vorhabens, vorgeschlagen von Jan-Martin in seinem Halbtagsblog, befasst sich mit Punkt Nr. 7 aus dem Manifest des „Bildungsrats von unten”: Arbeitszeiten in Schule erfassen und Tätigkeiten angemessen mit Zeit unterfüttern!
Ich bin gespannt auf die verschiedenen Perspektiven, denn zumindest in meinem Umfeld ist Lehrerarbeitszeit durchaus ein Reizthema und meine Position stößt nicht immer auf Gegenliebe.
Spreche ich mit Kolleginnen und Kollegen über ihre Arbeitszeit, geht es dabei hauptsächlich um Belastungen, und sehr schnell vermischen sich dann klar messbare Faktoren wie tägliche Anfangs- und Endzeiten mit schon weniger messbaren wie zusätzlichen inhaltlichen Aufgaben und Anforderungen und kaum mehr messbaren wie der daraus entstehenden individuell gefühlten Belastung.
Auch in der Langfassung des Manifests des „Bildungsrats von unten” vermischen sich nachweisbare Studienergebnisse mit inhaltlichen und damit auch individuellen Aspekten, wenn es dort heißt:
„Die Zeit, die Lehrkräfte mit Erziehungs‑, Eltern- und Präventionsarbeit verbringen, hat stark zugenommen. Angebote der Berufs- und Studienorientierung sowie beispielsweise der Medienbildung werden gleichfalls in einem immer größeren Ausmaß notwendig, ohne dass an anderer Stelle im Curriculum gekürzt wird. Als neue und zusätzliche Aufgaben für Lehrkräfte können beispielhaft benannt werden: Vorbereitung differenzierter Unterrichtsstrategien sowie Berücksichtigung verschiedener Lernausgangslagen und Niveaustufen; Umsetzung des inklusiven Unterrichts, Umsetzung der Ganztagsschule; Durchführung von Lernstandserhebungen und Lernstandsdiagnosen (z. B. VERA); Teambesprechungen; Weiterentwicklung von Prüfungsformaten und ‑standards sowie eine kontinuierliche reflektierte Routinebildung beim Einsatz sich schnell verändernder digitaler Tools und Konzepte.”
https://bildungsrat.org/wp-content/uploads/2024/01/Bildungsrat-Manifest-von-unten-30–01-2024.pdf
Diese Darstellung suggeriert, dass die unbestritten zunehmenden inhaltlichen Aufgaben alle der bisherigen Arbeitszeit hinzuzurechnen wären. Aber wenn z.B. Angebote der Berufs- und Studienorientierung mehr Zeit beanspruchen, treffen sich Lehrkräfte und Schüler/-innen ja nicht nachmittags, um den dadurch entstehenden „Curriculum-Stau” aufzulösen, es werden lediglich nicht mehr alle bisher untergebrachten Fachinhalte behandelt werden.
Und auch die Umsetzung inklusiven Unterrichts oder der Ganztagsschule finden im unveränderten Rahmen der Schüler-Unterrichtsstunden ihren Platz und erzeugen keinen neuen zusätzlichen Zeitbedarf, die veränderte Vorbereitung differenzierter Unterrichtsstrategien wird von den Autoren ja noch einmal gesondert angeführt.
Natürlich haben die Autoren Recht, wenn sie den zeitlichen Mehraufwand durch zunehmende Teambesprechungen, immer weitere diagnostische Tests, aufwändigere Elternarbeit und auch die Einarbeitung in sich ständig schneller verändernde Tools und Konzepte kritisieren, aber eine Vermischung aller verschiedenen Belastungen, unabhängig vom realen zeitlichen Mehrbedarf, halte ich in der Diskussion um die Lehrerarbeitszeit auch angesichts der wohl kaum weniger dramatischen inhaltlichen Veränderungen anderer Berufe für wenig hilfreich.
Und zumindest ich empfinde die Richtung, aus der Lehrkräfte und Verbände hier häufig argumentieren, als bereits „gefärbt” durch die angenommene Prämisse, eine Zeiterfassung würde endlich die ungesehene flächendeckende Mehrarbeit der Lehrkräfte sichtbar machen:
„Um angesichts versteckter Überstunden die tatsächlichen Bedarfe transparent zu machen und den durch Mehrarbeit bestehenden Belastungsdruck abzubauen, muss die Arbeitszeit schulischer Lehr- und Fachkräfte künftig vollständig erfasst werden.”
https://bildungsrat.org/wp-content/uploads/2024/01/Bildungsrat-Manifest-von-unten-Kurzfassung.pdf
Aber von was reden wir überhaupt, wenn wir von Lehrerarbeitszeit sprechen?
Hier in Niedersachsen, wie vermutlich andernorts auch, haben Lehrkräfte nach der gültigen Beamten-Arbeitszeit-Verordnung, Lehrer-Arbeitszeit-Verordnung und Erholungsurlaubsverordnung eine 40-Stunden-Woche mit 30 Tagen Urlaubsanspruch im Jahr, die in den Ferien zu nehmen sind.1
Dank einer niedersächsischen Lehrerarbeitszeitstudie aus dem Jahr 2016 ist außerdem berechnet, dass sich bei Ausnutzung aller Ferientage als Urlaubstage die wöchentliche Arbeitszeit auf rund 46.3 Stunden2 erhöhen würde.
Und hier wird es dann das erste Mal knifflig, wenn man an die geplante Zeiterfassung denkt: Wohl keine Lehrkraft macht tatsächlich 12 Wochen im Jahr Urlaub und nimmt erst zum ersten Schultag wieder einen Stift in die Hand.
Wie groß aber der Anteil der in den Ferien geleisteten Arbeitszeit ist, dürfte sich stark unterscheiden, damit liegt die Lehrerarbeitszeit insgesamt also irgendwo zwischen 40 und 46,3 Wochenstunden.
Diese Arbeitszeit wird dann noch einmal mindestens unterteilt in Unterrichtszeit, also die Deputat-Pflichtstunden, die Lehrkräfte je nach Schulform zu erteilen haben,3 und die außerunterrichtliche Arbeitszeit, die unter anderem Konferenzen, Schulveranstaltungen, Elterngespräche und die gesamte Vor- und Nachbereitung des Unterrichts einschließt.
Wollte man nun wie in dem Manifest gefordert, die tatsächlichen Bedarfe transparent machen (vgl. Manifest-Kurzfassung Punkt 7), müsste eine Zeiterfassung für Lehrkräfte nicht nur aus dem „Ein- und Ausstempeln” morgens und nachmittags bestehen, sondern die einzelnen Tätigkeiten genau erfassen.
Einen Schritt in diese Richtung hat 2003 Hamburg unternommen,4 wobei das Hamburger Arbeitszeitmodell nicht als Abrechnungsmodell gedacht war.
Aber während ich die Aufschlüsselung der Arbeitszeit in verschiedene Aufgabenbereiche tatsächlich hilfreich finde, muss ich zugeben, dass ich die Idee, die Anzahl der Unterrichtsstunden am unterschiedlichen Aufwand festzumachen, eher kritisch sehe. Natürlich unterscheidet sich der Korrekturaufwand im Fach Deutsch zwischen der ersten und der zehnten Klasse immens, aber das alleine macht doch den Arbeitsaufwand nicht aus.
(Aber ich kratze nur an der Oberfläche des Hamburger Arbeitszeitmodells und stecke da nicht wirklich drin.)
Verfolge ich diesen Gedanken allerdings in Richtung einer detaillierten Arbeitszeiterfassung, frage ich mich, was es mir bringt, schwarz auf weiß zu sehen, dass der Zeitaufwand für Elternarbeit immer größer wird. Muss ich dann weniger Elterngespräche führen?
Und schlussendlich nicht ganz unwichtig: Wer erfasst die Arbeitszeit?
Wenn Lehrkräfte wie bisher einen Teil ihrer Tätigkeiten in der Schule, einen anderen Teil jedoch zuhause erledigen, entfällt wohl die übliche Methode des Ein- und Ausstempelns beim Betreten und Verlassen der Arbeitsstelle. In diesem Fall müssten Lehrkräfte ihre Arbeitszeit eigenverantwortlich mittels einer App oder anderen technischen Lösungen erfassen.
Dabei kommt mir aber der Kollege in den Sinn, der nicht davon abzubringen war, dass sein 30-minütiger Anfahrtsweg doch zur Arbeitszeit gehören würde. Sicher nicht ganz so extrem, aber dafür häufiger werden durchaus Pausen bis hin zur Mittagspause vor der Konferenz zur Arbeitszeit gezählt; die Kaffeezeit im nachmittäglichen Home-Office würde also vielleicht nicht immer von der Zeiterfassung ausgenommen.
Hierin begründet sich auch mein ganz privater Unkenruf, mit dem ich mich in dieser Debatte meist unbeliebt mache: Ich bin nicht sicher, dass jede Lehrerin und jeder Lehrer nach Einführung einer offiziellen Zeiterfassung Unmengen versteckter Überstunden finden wird. Manch eine/r wird sich möglicherweise auch überraschend im Soll finden.
Ich erfasse meine Arbeitszeit mit kurzer Unterbrechung seit 20175 und stelle zumindest für mich fest, dass trotz Arbeitsbeginn um 7:00 Uhr und Heimfahrt nachmittags die mindestens 40 Wochenstunden nicht ohne Weiteres schon am Donnerstag erreicht sind.
Nun bin ich nicht an einem Gymnasium (Stichwort Korrekturen) und habe eine große Schwachstelle, da ich telefonieren hasse und vermutlich nur ungenügend Elterngespräche führe, aber dies beides füllt sicher nicht allein die Abende.
Zeiterfassung einiger zufällig ausgewählter Wochen dieses Schuljahres
Ich hoffe sehr, dass die nun zwangsweise geplante Zeiterfassung mehr werden wird als ein reines „Stempeln” der Lehrkräfte, oder schlimmer noch: ein bloßes Zusammenrechnen von Unterrichtsverpflichtung und geschätztem außerunterrichtlichem Arbeitsaufwand an höherer Stelle.
Vielleicht bietet sich hier endlich die Chance, verschiedene Arbeitszeitmodelle zu diskutieren und einmal grundlegend über tatsächliche Belastungen und ihre gerechte Verteilung zu sprechen.
Es bedarf neuer Tätigkeitsschlüssel und einer wie im Manifest geforderten Transparenz, welcher Zeitaufwand für welche Aufgabe einer Lehrkraft angemessen ist.
Und es bedarf einer räumlichen und sächlichen Ausstattung der Schulen, die es den Lehrkräften ermöglicht, ihre Arbeitszeit auch während der Arbeit und am Arbeitsplatz und nicht teilweise im Privaten zu erfüllen.
Dann wäre die Lehrerarbeitszeiterfassung mehr als nur eine weitere zusätzliche Aufgabe.
Weitere Perspektiven und Beiträge dieser Blogparade:
Halbtagsblog: https://halbtagsblog.de/2024/02/04/blogparade-2-arbeitszeiten-in-der-schule-erfassen/
Kubiwahn: https://www.kubiwahn.de/2024/02/arbeitszeiten-in-der-schule-erfassen/
Herr Mess: https://herrmess.de/2024/02/10/edublogparade2024-runde-2-arbeitszeiterfassung-fuer-lehrkraefte/#comments
Off-On-Education: https://www.timo-off.de/2023/eigentlich-keine-arbeitszeiterfassung-aber/
SchulMUN: https://www.schulmun.de/2024/02/04/2024–04-auseinandersetzung-mit-dem-manifest-des-bildungsrates-als-teil-einer-blogparade/
„Lehrer mit Bart“: https://halbtagsblog.de/2024/02/10/arbeitszeiterfassung-gastbeitrag/
Lehrerzimmer: https://www.herr-rau.de/wordpress/2024/02/arbeitszeiten-in-schule-erfassen-und-taetigkeiten-angemessen-mit-zeit-unterfuettern.htm
blog.fengler.schule: https://fengler.schule/?p=75
- Diese Werte sowie die folgenden Berechnungen gelten für eine Vollzeitstelle. ↩︎
- Auch hier gibt es unterschiedliche Zahlen, die erst einmal bundesweit angeglichen werden müssten. ↩︎
- Vgl. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Pflichtstunden_der_LehrerInnen_2022.pdf ↩︎
- https://www.hamburg.de/bsb/lehrerarbeitszeit/ ↩︎
- Ich nutze die App„WorkingHours”, die zwar nicht kostenlos, dafür aber auf mehreren Endgeräten synchron zu nutzen ist. ↩︎
Ich habe mich in der Blogparade auf das Thema Quereinstieg konzentriert, meinen Beitrag aber noch um diesen Aspekt zur Arbeitszeit ergänzt:
Viele Aspekte, die Kontroversität und die Schwierigkeiten bei der Messung von Arbeitszeit von Lehrkräften können in den verschiedenen Blogbeiträgen zur Blogparade nachgelesen werden.
Einen unpopulären Aspekt möchte ich noch ergänzen. Eine wirklich umfassende und exakte Erfassung der Arbeitszeit würde vermutlich große Ungleichheiten innerhalb der Kollegien ergeben, die sich aus der Fächerkombination und dem über den Unterricht hinausgehenden Engagement ergeben. Dazu kommen noch Lebensabschnittsbedingte Disparitäten und mögliche Karriereambitionen. Das birgt enormes Konfliktpotenzial, allerdings gibt es wohl in jedem Beruf „High- und Low-Performer”.
Letztlich lässt sich bei den meisten Berufen, abgesehen vielleicht von der Fließbandarbeit, eine rein am Output orientierte Erfassung von Arbeitszeit und Leistung nicht sinnvoll realisieren.
Dennoch, wer diesen Aspekt sinnvoll zu Ende diskutieren will, muss letztendlich auch über den Beamtenstatus diskutieren, aber das wäre dann vielleicht mal ein schönes Thema für eine andere Blogparade.
Du hast keine Angst vor heißen Eisen, oder? 😀
Da der Beamtenstatus aber gerade wieder als Lockangebot der Bundesländer zur Lehrkräfte-Gewinnung genutzt wird, ist diese Diskussion wohl für eine Weile vom Tisch.
Ich glaube, dass wir „heiße Eisen” erst gar nicht mehr diskutieren, geschweige denn anfassen, ist zentraler Teil des Problems…
Ich bin mir gar nicht sicher, ob der Beamtenstatus im 21. Jahrhundert noch als Lockmittel taugt, schon gar nicht für die Menschen, die wir an Schule brauchen.
Lockt diseser Status im Moment nicht vielleicht sogar eher die Falschen an? Just asking… For a friend 😉
Da sind wieder ein paar schöne Aritkel rausgekommen 😁 Ich hatte schon bei Timo geschrieben, wir sind alle so ein bisschen hin- und hergerissen. Die Realisierbarkeit finde ich schon sehr spannend… und auch bestimmt sehr fehleranfällig, wenn man sie mal auf den Weg bringt.
Nur so als Interesse: Mit welchem Tool erfasst du denn aktuell deine Arbeitszeiten?
Ja, das ist kein so ganz einfaches Pro- oder Contra-Thema. Finde ich prima für eine Blogparade und habe schon ganz neue Aspekte zum Nachdenken gefunden.
Ich nutze die App Working Hours, die auf allen Plattformen (Android in der Tasche, Windows im Büro und iOS auf dem Dienstgerät) stabil läuft. Ist nicht kostenlos, kostet aber auch nicht die Welt und ist für mich seinen Preis wert.
Prima. Check ich gleich mal aus. Danke schön!