my two cents

Ler­nen ist kei­ne Leistung

Ler­nen ist kei­ne Leis­tung. Zuge­ge­ben, die­se The­se ist pro­vo­ka­tiv und fak­tisch natür­lich nicht zutref­fend, aber im schu­li­schen Kon­text nun doch wie­der nicht ganz falsch.

Der Auf­trag an mei­ne Fünft­kläss­ler, inner­halb der nächs­ten Vier­tel­stun­de mit ihren Pla­ka­ten fer­tig zu wer­den, hat eini­ge Schü­le­rin­nen und Schü­ler in tie­fe Ver­zweif­lung gestürzt. Man sei doch noch gar nicht so weit, nun bekä­me man eine schlech­te Note.

Oder:

Der Kol­le­ge, der auf einer Fort­bil­dung zu digi­ta­len Tools die Befürch­tung äußert, man kön­ne doch zum Bei­spiel bei der Arbeit an einer digi­ta­len Pinn­wand die Arbeit der Schü­le­rin­nen und Schü­ler gar nicht bewer­ten, wenn sie anonym pos­ten würden.

Unab­hän­gig davon, dass man die gän­gi­ge Form schu­li­scher Leis­tungs­be­wer­tung grund­sätz­lich in Fra­ge stel­len und dafür ver­mut­lich auch zahl­rei­che Mit­strei­ter fin­den könn­te, offen­ba­ren die bei­den genann­ten Bei­spie­le ein viel grö­ße­res Pro­blem: die täg­li­che Ver­mi­schung von Lern- und Leis­tungs­si­tua­tio­nen, und in der Fol­ge auch die Ver­qui­ckung von Leis­tungs­fest­stel­lung und Leistungsbewertung.

Die Ergeb­nis­se die­ser Ver­mi­schung haben wir im Schul­all­tag mei­nes Erach­tens tag­täg­lich vor Augen: 

  • Schü­le­rin­nen und Schü­ler, die die Lust am Ler­nen ver­lie­ren, und im Extrem­fall sogar Schul­angst entwickeln; 
  • feh­len­der Mut zum kri­ti­schen Den­ken und zu kri­ti­schen Äuße­run­gen, am Ende zuneh­mend ange­pass­te­re Äuße­run­gen in Unterrichtsgesprächen;
  • die „Öko­no­mi­sie­rung” der Mit­ar­beit („Was für eine Note bekom­me ich jetzt dafür?”).

Um einen lern- und in der Fol­ge selbst­ver­ständ­lich auch leis­tungs­för­der­li­chen Unter­richt gestal­ten zu kön­nen, der die Kom­pe­tenz­ent­wick­lung der Schü­le­rin­nen und Schü­ler zum Ziel hat, soll­ten die­se Begrif­fe unbe­dingt klar von­ein­an­der abge­grenzt werden. 

Lern­si­tua­tio­nen

Schü­le­rin­nen und Schü­ler besu­chen die Schu­le pri­mär, um dort zu ler­nen,Dass natür­lich auch anders­wo – und manch­mal sogar bes­ser – gelernt wer­den kann, und dass das Ler­nen außer­halb des Prä­senz­un­ter­richts aktu­ell neu gedacht wird, spielt in die­sem Zusam­men­hang auf­grund immer noch gel­ten­der Schul- und Anwe­sen­heits­pflicht vor­erst kei­ne wesent­li­che Rol­le. die eben­falls schu­li­schen Auf­ga­ben der Selek­ti­on und Allo­ka­ti­on sind trotz der Tat­sa­che, dass sie oft in den Vor­der­grund drän­gen, nur sekundäre.

Wenn Lehr­kräf­te das Ziel des Ler­nens ihrem Unter­richts­han­deln und ihren Auf­ga­ben­stel­lun­gen vor­an­stel­len, hat dies unmit­tel­ba­re Aus­wir­kun­gen auf die Gestal­tung von beidem:

"Während es in der Leistungssituation Fehler zu vermeiden gilt, sind sie in der Lernsituation ein Erkenntnismittel." Köster, J. (2004)

In einer Lern­si­tua­ti­on soll­ten stres­sen­de Fak­to­ren mög­lichst weg­fal­len und Frei­raum zum Den­ken und Neu­den­ken geschaf­fen wer­den.
Hier kön­nen die Schü­le­rin­nen und Schü­ler sich aus­pro­bie­ren, Feh­ler machen, Feh­ler kor­ri­gie­ren und auf die­se Wei­se Wis­sen konstruieren.

Die Lehr­kraft muss dabei kei­nes­wegs voll­kom­men in den Hin­ter­grund tre­ten und sich auf die Posi­ti­on des rein beob­ach­ten­den Lern­be­glei­ters zurück­zie­hen. Viel­mehr bil­det die – schü­le­rin­nen­zen­trier­te – direk­te Instruk­ti­on nach Wei­nert die Grund­la­ge der Lern­pha­sen.
Die Lehr­kraft

"[...] stellt Fragen unterschiedlicher Schwierigkeit, organisiert, strukturiert, kontrolliert, korrigiert und evaluiert die Lernfortschritte der Schüler beständig und sorgt dafür, dass Fehlinformationen und Wissenslücken vermieden oder schnell beseitigt werden." Weinert, F. (1999)

Was aber fehlt, was in die­ser Situa­ti­on feh­len muss, ist eine über den Köp­fen der Schü­le­rin­nen und Schü­ler schwe­ben­de Note für „Mit­ar­beit”.Eine aus mei­ner Sicht legi­ti­me Aus­nah­me bil­det die in vie­len Bun­des­län­dern übli­che Bewer­tung des Arbeits­ver­hal­tens, also der so genann­ten „Kopf­no­ten”. In trans­pa­ren­ten Lern­si­tua­tio­nen ver­rin­gert sich hier übri­gens auch die häu­fig zu beob­ach­ten­de Ver­mi­schung einer Bewer­tung des Arbeits- und Sozi­al­ver­hal­tens und der Leistungsbewertung.

Den Lern­auf­ga­ben kommt in die­sem Zusam­men­hang eine beson­de­re Bedeu­tung zu: Sie müs­sen moti­vie­rend, an die (im Ide­al­fall indi­vi­du­el­len) Vor­kennt­nis­se ange­passt und gleich­zei­tig her­aus­for­dernd for­mu­liert sein.

Lern­auf­ga­ben schaf­fen dabei Situa­tio­nen, die

"Schülerinnen und Schüler in Experimentier-, Übungs-, Anwendungs-, Verwendungssituationen verwickeln [...]" Luthiger, H. (2012)

An die­ser Stel­le kommt den digi­ta­len Tools eine beson­de­re Rol­le zu: Sie ermög­li­chen ein ver­än­der­tes und Ler­nen in Selbst­be­stimmt­heit des Ein­zel­nen, wenn wir es denn zulas­sen.
Ins­be­son­de­re der – zumin­dest für mich zen­tra­le – Aspekt der Kol­la­bo­ra­ti­on als eine der 4K (Kom­mu­ni­ka­ti­on, Kol­la­bo­ra­ti­on, Krea­ti­vi­tät und kri­ti­sches Den­ken) kann nur in ech­ten Lern­si­tua­tio­nen statt­fin­den! Hier geht es um das gemein­sa­me Ler­nen, die Ent­wick­lung von Wis­sen durch eine Zusam­men­ar­beit, die am Ende nicht mehr in Noten für ihre ein­zel­nen Bestand­tei­le zer­glie­dert wer­den kann. Hier die Lern- mit einer Leis­tungs­si­tua­ti­on zu ver­mi­schen, zer­stört jeg­li­che ech­te Kol­la­bo­ra­ti­on schon im Ansatz.
Für die Kom­pe­ten­zen „Kom­mu­ni­ka­ti­on”, Krea­ti­vi­tät” und „kri­ti­sches Den­ken” gilt in nach­voll­zieh­ba­rer Wei­se das Gleiche.

Dar­aus resul­tie­rend war mei­ne Ant­wort auf die oben erwähn­te Fra­ge des Kol­le­gen, wie er denn in zum Bei­spiel einem Pad­let anony­me Bei­trä­ge sei­ner Schü­le­rin­nen und Schü­ler bewer­ten sol­le: eben gar nicht. 

Die anony­men Pad­let-Bei­trä­ge sind nur Bestand­tei­le des gemein­sa­men Lern­we­ges; wer sich (im bestehen­den Sys­tem ja durch­aus ver­ständ­lich!) von regel­mä­ßi­ger Bewer­tung nicht lösen mag, kann ohne gro­ßen Auf­wand an die­se Lern­si­tua­ti­on eine Leis­tungs­über­prü­fung anschlie­ßen, bei der das gemein­sam gewon­ne­nen Wis­sen jetzt von jeder und jedem Ein­zel­nen auf eine neue Pro­blem­stel­lung ange­wen­det wer­den muss.

Leis­tungs­fest­stel­lung

Der nie­der­säch­si­sche Ori­en­tie­rungs­rah­men Schul­qua­li­tät grenzt in den Qua­li­täts­merk­ma­len 2.1 (Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung) und 5.3 (Leis­tungs­be­wer­tung) die Begrif­fe „Lehr- und Lern­pro­zess” deut­lich von „Leis­tungs­fest­stel­lung” und „Leis­tungs­be­wer­tung” ab.

Ins­be­son­de­re die Aus­dif­fe­ren­zie­rung von Leis­tungs­fest­stel­lung und Leis­tungs­be­wer­tung ist in die­sem Zusam­men­hang von Bedeu­tung, da damit zwei gänz­lich ver­schie­de­ne Din­ge gemeint sind.

Eine Fest­stel­lung indi­vi­du­el­ler Schü­ler­leis­tun­gen ist näm­lich auch in rei­nen Lern­si­tua­tio­nen denk­bar und stel­len­wei­se sogar erforderlich:

"Transparente Leistungsanforderungen und kontinuierliche Rückmeldungen zum Lernprozess und Lernertrag [...] helfen einerseits den Schülerinnen und Schülern, die Verantwortung für den eigenen Lernprozess sowie dessen Selbstregulation zu übernehmen, andererseits helfen sie den Lehrkräften bei der passgenauen Gestaltung des Lernangebots." Orientierungsrahmen Schulqualität (2014), S. 9

Leis­tungs­fest­stel­lung dient also pri­mär der Dia­gnos­tik. Sie erfolgt daher in der Regel auf indi­vi­du­el­ler Basis durch Beob­ach­tung der Schü­le­rin­nen und Schü­ler oder durch Bespre­chung von Zwi­schen­er­geb­nis­sen im Lernprozess.

Eine Leis­tungs­über­prü­fung der gesam­ten Lern­grup­pe inner­halb einer Lern­si­tua­ti­on ist eben­falls denk­bar, dann muss aber der Gedan­ke des For­ma­ti­ve Assess­ment im Vor­der­grund ste­hen und den Schü­le­rin­nen und Schü­lern auch als sol­cher trans­pa­rent gemacht werden.

Leis­tungs­si­tua­ti­on

Wäh­rend die Lern­si­tua­ti­on vom Sich-Aus­pro­bie­ren, vom Irren und Umden­ken geprägt ist, um Ler­nen – im Ide­al­fall sogar kol­la­bo­ra­ti­ves Ler­nen – mög­lich zu machen, dient die Leis­tungs­si­tua­ti­on nur einem ein­zi­gen Zweck: der Bewertung.

Umso wich­ti­ger ist es, sie für die Schü­le­rin­nen und Schü­ler ganz klar von der Lern­si­tua­ti­on abzu­gren­zen. Und zwar nicht um ihrer selbst wil­len, son­dern damit der davor­lie­gen­de freie Raum zum Ler­nen sicht­bar wird.

Bis also die Leis­tungs­si­tua­ti­on klar benannt und dabei auch auf einen zeit­li­chen Rah­men oder ein bestimm­tes Pro­dukt ein­ge­grenzt wird, fin­det kei­ne Bewer­tung des Schü­ler­han­delns statt. 

Leis­tungs­be­wer­tung

Um wäh­rend ihrer Schul­zeit ler­nen zu kön­nen, und um Kom­pe­ten­zen zu ent­wi­ckeln und aus­zu­prä­gen, hilft Schü­le­rin­nen und Schü­lern die Bewer­tung ihrer Leis­tun­gen und deren Abdruck in einem Zeug­nis kaum.

Die Bewer­tung ist kein Teil des Lern­pro­zes­ses, son­dern vom Ler­nen an sich voll­kom­men los­ge­löst. Sie erfolgt am Ende und ist eigent­lich nur zum Zweck der Selek­ti­on und Allo­ka­ti­on erforderlich.

Da Leis­tungs­be­wer­tung im Schul­sys­tem nach wie vor eine hohe Bedeu­tung hat und auf­grund ihrer Fol­gen recht­lich gut abge­si­chert sein muss, ist das Schul­jahr gefüllt von durch Erlas­se vor­ge­schrie­be­nen Leis­tungs­si­tua­tio­nen zu Bewer­tungs­zwe­cken.
Selbst im güns­tigs­ten Fall unter Aus­schöp­fung aller Mög­lich­kei­ten einer Fach­kon­fe­renz müs­sen Schü­le­rin­nen und Schü­ler bereits in Klas­se 5 noch immer min­des­tens 22 Klas­sen­ar­bei­ten inner­halb eines 40-wöchi­gen Schul­jah­res schrei­ben.
Rech­net man dann noch die je nach Bun­des­land vor­ge­schrie­be­nen Kurz­tests, fach­spe­zi­fi­schen Leis­tun­gen oder ande­ren klei­nen Prü­fungs­for­ma­te hin­zu, wird schnell erkenn­bar, dass Schu­le deut­li­cher von Leis­tungs­si­tua­tio­nen als von Lern­si­tua­tio­nen geprägt ist.

Fazit I

Wenn es Lehr­kräf­ten nicht gelingt, Lern­si­tua­tio­nen von Leis­tungs­si­tua­tio­nen klar abzu­gren­zen, und dar­über hin­aus den Schü­le­rin­nen und Schü­lern auch den Unter­schied zwi­schen einer unter­stüt­zend-for­ma­ti­ven Leis­tungs­fest­stel­lung und einer abschlie­ßend-sum­ma­ti­ven Leis­tungs­be­wer­tung deut­lich zu machen, wird erfolg­rei­ches Ler­nen (zumin­dest im Sin­ne einer Kom­pe­tenz­ent­wick­lung, also einer Erwei­te­rung auch des Hand­lungs­re­per­toires) im Keim erstickt. 

Fazit II

Es wird in den kom­men­den Jah­ren span­nend sein, zu beob­ach­ten, ob das Schul­sys­tem in sei­ner gegen­wär­ti­gen Form Bestand haben wird.
Zeit­ge­mä­ßer Unter­richt unter Bedin­gun­gen der Digi­ta­li­tät und für eine Gene­ra­ti­on, deren Zukunft weni­ger als je zuvor vor­her­ge­sagt wer­den kann, benö­tigt mei­nes Erach­tens gänz­lich ande­re For­men des schu­li­schen Ler­nens und – wenn über­haupt – auch gänz­lich ande­re Prü­fungs­for­ma­te.
The­men­ori­en­tier­ter Unter­richt, Pro­jekt­ler­nen, „Frei-Days” und ande­re Ent­wick­lun­gen zei­gen hier neue Wege auf.


Lite­ra­tur:

Kös­ter, J. (2004): Ver­än­der­te Auf­ga­ben­kul­tur zur
Über­prü­fung des Text­ver­ste­hens [https://​leh​rer​fort​bil​dung​-bw​.de/​u​_​g​e​w​i​/​r​e​l​i​g​i​o​n​-​e​v​/​g​y​m​/​b​p​2​0​0​4​/​f​b​3​/​1​_​e​i​n​f​/​1​_​v​o​r​/​v​o​r​t​r​a​g​_​k​o​e​s​t​e​r​.​pdf]

Luthi­ger, H. (2012): Lern- und Leis­tungs­auf­ga­ben in einem kom­pe­tenz­ori­en­tier­ten Unter­richt [https://​www​.bud​rich​-jour​nals​.de/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​/​H​i​B​i​F​o​/​a​r​t​i​c​l​e​/​d​o​w​n​l​o​a​d​/​1​0​1​2​3​/​8​722]

Nie­der­säch­si­sches Kul­tus­mi­nis­te­ri­um (2014): Ori­en­tie­rungs­rah­men Schul­qua­li­tät in Nie­der­sach­sen [https://​www​.mk​.nie​der​sach​sen​.de/​d​o​w​n​l​o​a​d​/​9​3​0​6​7​/​O​r​i​e​n​t​i​e​r​u​n​g​s​r​a​h​m​e​n​_​S​c​h​u​l​q​u​a​l​i​t​a​e​t​_​i​n​_​N​i​e​d​e​r​s​a​c​h​s​e​n​.​pdf]

Wei­nert, F. (1999): Die fünf Irr­tü­mer der Schul­re­for­mer. Wel­che Leh­rer, wel­chen Unter­richt braucht das Land? Psy­cho­lo­gie Heu­te, 26(7), 28–34.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert