Lernen ist keine Leistung. Zugegeben, diese These ist provokativ und faktisch natürlich nicht zutreffend, aber im schulischen Kontext nun doch wieder nicht ganz falsch.
Der Auftrag an meine Fünftklässler, innerhalb der nächsten Viertelstunde mit ihren Plakaten fertig zu werden, hat einige Schülerinnen und Schüler in tiefe Verzweiflung gestürzt. Man sei doch noch gar nicht so weit, nun bekäme man eine schlechte Note.
Oder:
Der Kollege, der auf einer Fortbildung zu digitalen Tools die Befürchtung äußert, man könne doch zum Beispiel bei der Arbeit an einer digitalen Pinnwand die Arbeit der Schülerinnen und Schüler gar nicht bewerten, wenn sie anonym posten würden.
Unabhängig davon, dass man die gängige Form schulischer Leistungsbewertung grundsätzlich in Frage stellen und dafür vermutlich auch zahlreiche Mitstreiter finden könnte, offenbaren die beiden genannten Beispiele ein viel größeres Problem: die tägliche Vermischung von Lern- und Leistungssituationen, und in der Folge auch die Verquickung von Leistungsfeststellung und Leistungsbewertung.
Die Ergebnisse dieser Vermischung haben wir im Schulalltag meines Erachtens tagtäglich vor Augen:
- Schülerinnen und Schüler, die die Lust am Lernen verlieren, und im Extremfall sogar Schulangst entwickeln;
- fehlender Mut zum kritischen Denken und zu kritischen Äußerungen, am Ende zunehmend angepasstere Äußerungen in Unterrichtsgesprächen;
- die „Ökonomisierung” der Mitarbeit („Was für eine Note bekomme ich jetzt dafür?”).
Um einen lern- und in der Folge selbstverständlich auch leistungsförderlichen Unterricht gestalten zu können, der die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler zum Ziel hat, sollten diese Begriffe unbedingt klar voneinander abgegrenzt werden.
Lernsituationen
Schülerinnen und Schüler besuchen die Schule primär, um dort zu lernen,
Wenn Lehrkräfte das Ziel des Lernens ihrem Unterrichtshandeln und ihren Aufgabenstellungen voranstellen, hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die Gestaltung von beidem:
"Während es in der Leistungssituation Fehler zu vermeiden gilt, sind sie in der Lernsituation ein Erkenntnismittel." Köster, J. (2004)
In einer Lernsituation sollten stressende Faktoren möglichst wegfallen und Freiraum zum Denken und Neudenken geschaffen werden.
Hier können die Schülerinnen und Schüler sich ausprobieren, Fehler machen, Fehler korrigieren und auf diese Weise Wissen konstruieren.
Die Lehrkraft muss dabei keineswegs vollkommen in den Hintergrund treten und sich auf die Position des rein beobachtenden Lernbegleiters zurückziehen. Vielmehr bildet die – schülerinnenzentrierte – direkte Instruktion nach Weinert die Grundlage der Lernphasen.
Die Lehrkraft
"[...] stellt Fragen unterschiedlicher Schwierigkeit, organisiert, strukturiert, kontrolliert, korrigiert und evaluiert die Lernfortschritte der Schüler beständig und sorgt dafür, dass Fehlinformationen und Wissenslücken vermieden oder schnell beseitigt werden." Weinert, F. (1999)
Was aber fehlt, was in dieser Situation fehlen muss, ist eine über den Köpfen der Schülerinnen und Schüler schwebende Note für „Mitarbeit”.
Den Lernaufgaben kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu: Sie müssen motivierend, an die (im Idealfall individuellen) Vorkenntnisse angepasst und gleichzeitig herausfordernd formuliert sein.
Lernaufgaben schaffen dabei Situationen, die
"Schülerinnen und Schüler in Experimentier-, Übungs-, Anwendungs-, Verwendungssituationen verwickeln [...]" Luthiger, H. (2012)
An dieser Stelle kommt den digitalen Tools eine besondere Rolle zu: Sie ermöglichen ein verändertes und Lernen in Selbstbestimmtheit des Einzelnen, wenn wir es denn zulassen.
Insbesondere der – zumindest für mich zentrale – Aspekt der Kollaboration als eine der 4K (Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken) kann nur in echten Lernsituationen stattfinden! Hier geht es um das gemeinsame Lernen, die Entwicklung von Wissen durch eine Zusammenarbeit, die am Ende nicht mehr in Noten für ihre einzelnen Bestandteile zergliedert werden kann. Hier die Lern- mit einer Leistungssituation zu vermischen, zerstört jegliche echte Kollaboration schon im Ansatz.
Für die Kompetenzen „Kommunikation”, Kreativität” und „kritisches Denken” gilt in nachvollziehbarer Weise das Gleiche.
Daraus resultierend war meine Antwort auf die oben erwähnte Frage des Kollegen, wie er denn in zum Beispiel einem Padlet anonyme Beiträge seiner Schülerinnen und Schüler bewerten solle: eben gar nicht.
Die anonymen Padlet-Beiträge sind nur Bestandteile des gemeinsamen Lernweges; wer sich (im bestehenden System ja durchaus verständlich!) von regelmäßiger Bewertung nicht lösen mag, kann ohne großen Aufwand an diese Lernsituation eine Leistungsüberprüfung anschließen, bei der das gemeinsam gewonnenen Wissen jetzt von jeder und jedem Einzelnen auf eine neue Problemstellung angewendet werden muss.
Leistungsfeststellung
Der niedersächsische Orientierungsrahmen Schulqualität grenzt in den Qualitätsmerkmalen 2.1 (Kompetenzorientierung) und 5.3 (Leistungsbewertung) die Begriffe „Lehr- und Lernprozess” deutlich von „Leistungsfeststellung” und „Leistungsbewertung” ab.
Insbesondere die Ausdifferenzierung von Leistungsfeststellung und Leistungsbewertung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, da damit zwei gänzlich verschiedene Dinge gemeint sind.
Eine Feststellung individueller Schülerleistungen ist nämlich auch in reinen Lernsituationen denkbar und stellenweise sogar erforderlich:
"Transparente Leistungsanforderungen und kontinuierliche Rückmeldungen zum Lernprozess und Lernertrag [...] helfen einerseits den Schülerinnen und Schülern, die Verantwortung für den eigenen Lernprozess sowie dessen Selbstregulation zu übernehmen, andererseits helfen sie den Lehrkräften bei der passgenauen Gestaltung des Lernangebots." Orientierungsrahmen Schulqualität (2014), S. 9
Leistungsfeststellung dient also primär der Diagnostik. Sie erfolgt daher in der Regel auf individueller Basis durch Beobachtung der Schülerinnen und Schüler oder durch Besprechung von Zwischenergebnissen im Lernprozess.
Eine Leistungsüberprüfung der gesamten Lerngruppe innerhalb einer Lernsituation ist ebenfalls denkbar, dann muss aber der Gedanke des Formative Assessment im Vordergrund stehen und den Schülerinnen und Schülern auch als solcher transparent gemacht werden.
Leistungssituation
Während die Lernsituation vom Sich-Ausprobieren, vom Irren und Umdenken geprägt ist, um Lernen – im Idealfall sogar kollaboratives Lernen – möglich zu machen, dient die Leistungssituation nur einem einzigen Zweck: der Bewertung.
Umso wichtiger ist es, sie für die Schülerinnen und Schüler ganz klar von der Lernsituation abzugrenzen. Und zwar nicht um ihrer selbst willen, sondern damit der davorliegende freie Raum zum Lernen sichtbar wird.
Bis also die Leistungssituation klar benannt und dabei auch auf einen zeitlichen Rahmen oder ein bestimmtes Produkt eingegrenzt wird, findet keine Bewertung des Schülerhandelns statt.
Leistungsbewertung
Um während ihrer Schulzeit lernen zu können, und um Kompetenzen zu entwickeln und auszuprägen, hilft Schülerinnen und Schülern die Bewertung ihrer Leistungen und deren Abdruck in einem Zeugnis kaum.
Die Bewertung ist kein Teil des Lernprozesses, sondern vom Lernen an sich vollkommen losgelöst. Sie erfolgt am Ende und ist eigentlich nur zum Zweck der Selektion und Allokation erforderlich.
Da Leistungsbewertung im Schulsystem nach wie vor eine hohe Bedeutung hat und aufgrund ihrer Folgen rechtlich gut abgesichert sein muss, ist das Schuljahr gefüllt von durch Erlasse vorgeschriebenen Leistungssituationen zu Bewertungszwecken.
Selbst im günstigsten Fall unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten einer Fachkonferenz müssen Schülerinnen und Schüler bereits in Klasse 5 noch immer mindestens 22 Klassenarbeiten innerhalb eines 40-wöchigen Schuljahres schreiben.
Rechnet man dann noch die je nach Bundesland vorgeschriebenen Kurztests, fachspezifischen Leistungen oder anderen kleinen Prüfungsformate hinzu, wird schnell erkennbar, dass Schule deutlicher von Leistungssituationen als von Lernsituationen geprägt ist.
Fazit I
Wenn es Lehrkräften nicht gelingt, Lernsituationen von Leistungssituationen klar abzugrenzen, und darüber hinaus den Schülerinnen und Schülern auch den Unterschied zwischen einer unterstützend-formativen Leistungsfeststellung und einer abschließend-summativen Leistungsbewertung deutlich zu machen, wird erfolgreiches Lernen (zumindest im Sinne einer Kompetenzentwicklung, also einer Erweiterung auch des Handlungsrepertoires) im Keim erstickt.
Fazit II
Es wird in den kommenden Jahren spannend sein, zu beobachten, ob das Schulsystem in seiner gegenwärtigen Form Bestand haben wird.
Zeitgemäßer Unterricht unter Bedingungen der Digitalität und für eine Generation, deren Zukunft weniger als je zuvor vorhergesagt werden kann, benötigt meines Erachtens gänzlich andere Formen des schulischen Lernens und – wenn überhaupt – auch gänzlich andere Prüfungsformate.
Themenorientierter Unterricht, Projektlernen, „Frei-Days” und andere Entwicklungen zeigen hier neue Wege auf.
Literatur:
Köster, J. (2004): Veränderte Aufgabenkultur zur
Überprüfung des Textverstehens [https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gewi/religion-ev/gym/bp2004/fb3/1_einf/1_vor/vortrag_koester.pdf]
Luthiger, H. (2012): Lern- und Leistungsaufgaben in einem kompetenzorientierten Unterricht [https://www.budrich-journals.de/index.php/HiBiFo/article/download/10123/8722]
Niedersächsisches Kultusministerium (2014): Orientierungsrahmen Schulqualität in Niedersachsen [https://www.mk.niedersachsen.de/download/93067/Orientierungsrahmen_Schulqualitaet_in_Niedersachsen.pdf]
Weinert, F. (1999): Die fünf Irrtümer der Schulreformer. Welche Lehrer, welchen Unterricht braucht das Land? Psychologie Heute, 26(7), 28–34.