Nicht für die Schule …

Vergangenes Wochenende hat mein Dienstherr in einer Pressemitteilung auf das erste Halbjahr zurückgeblickt und ein positives Fazit gezogen. Es sei „gelungen, Präsenzunterricht anzubieten und damit den Schülerinnen und Schülern ein hohes Maß an Normalität, gemeinsames Lernen und soziale Kontakte zu ermöglichen.“

Fünf Tage später folgten zwei Erlasse: Dem ersten zufolge darf im zweiten Halbjahr in jedem Fach nur noch eine schriftliche Arbeit geschrieben werden; der zweite verlängert die Regelungen zu den Abschlussprüfungen des vergangenen Jahres.
Erneut sind die mündlichen Prüfungen in den „Nebenfächern“ freiwillig und werden außerdem nicht gewertet, wenn die Gesamtzensur nach Prüfungsergebnis schlechter als ausreichend ist.
Und Schülerinnen und Schüler, die aufgrund von Quarantäne oder Erkrankung an einer oder mehren Prüfungen nicht teilnehmen können, erhalten ihr Abschlusszeugnis auch ohne Prüfungsteilnahme.

Wie das Lob eines erfolgreichen Präsenzunterrichts und diese Erlasse zusammenpassen, mögen klügere Geister, als ich es bin, erklären.

Was ich aber wage, ist eine Prognose, wohin uns diese und ähnliche Regelungen der vergangenen Monate führen werden: zu Schulabgängern, denen Steine aus dem Weg geräumt wurden, die keine Stolpersteine, sondern Entwicklungsstufen gewesen wären. Und die zu bewältigen sie gestärkt und selbstständiger gemacht hätte für das, was auf die Schule folgt, und das wir „echtes Leben“ nennen.

Nach einer Schulzeit, in der man sich vor Weihnachten und aus guten oder weniger guten Gründen auch sonst jederzeit aussuchen konnte, ob man zur Schule geht oder nicht; in der die üblichen Leistungsnachweise mehr als halbiert wurden und an dessen Ende man – sofern man mochte – noch eine mündliche Prüfung ohne jegliches Risiko machen konnte, dürfte es schwer werden, in Ausbildung oder Studium selbstständig und kraftvoll allen Herausforderungen zu begegnen und gestellte Aufgaben fristgerecht zu erfüllen.

Ich kann mir jedenfalls keinen Ausbildungsbetrieb vorstellen, bei dem man drei Tage vor dem Urlaub schon von zuhause aus mitarbeiten kann und wo maximal ein Werkstück in einem halben Jahr produziert werden muss.
Und welche Eigenverantwortung die Herausforderungen eines Studiums verlangen, ist kein Geheimnis.

Diese Generation von Schülerinnen und Schülern ist ohne Zweifel durch die Corona-Pandemie besonders belastet und von Politik und Gesellschaft allzu oft vergessen und vernachlässigt worden.
Keine Klassenreisen, keine großen Feiern oder Partys, familiäre Sorgen um Gesundheit, Geld und Zukunft und allgemein ein Verlust sozialen Miteinanders in einer derart prägenden Lebensphase verursachen soziale und emotionale Schäden, deren Ausmaß und Folgen wir derzeit noch gar nicht ermessen können.

Was aber nützt da die Reduzierung von Anforderungen, Klassenarbeiten und anderen Leistungsnachweisen?

Soll sie der Kompensation der durch Corona (oder nur eine unglückliche Corona-Politik?) verursachten sozialen Einbußen der Kinder und Jugendlichen dienen, verfehlt sie das, auf das sie zielt.

Eine Arbeit weniger zu schreiben oder keine mündliche Prüfung machen zu müssen, ändert nichts an den derzeitigen Sorgen und Nöten der Jugendlichen und bietet damit auch noch keinen Ersatz für die Art sozialen Miteinanders, die ihnen fehlt. Selbst wenn wir den Unterricht ganz ließen, wäre Schule nicht der Raum dafür.

Soll die Reduzierung von Anforderungen schulischen Stress verringern, verfehlt sie ebenfalls ihren Zweck, denn auch denen, die alle Befreiungen gerne und großzügig in Anspruch nehmen, ist bewusst, dass damit nur aufgeschoben wird, was dann eben später gelernt werden muss. Oder schlimmer: dass in Teilen versäumt wird, was später nicht mehr gelernt werden kann.
Es mag wie eine kurzfristige Erleichterung aussehen, aber das mediale Raunen vom versäumten Stoff, fehlenden Kompetenzen und späteren Einkommenseinbußen war auch für Schülerinnen und Schüler unüberhörbar, und den Widerspruch erkennen auch sie sehr wohl.

Es hätte Wege geben können, auf differenzierte Weise Schulen, Lerngruppen und sogar einzelnen Schülern, die von Corona besonders betroffen sind, zu ermöglichen, diese Nachteile gezielt auszugleichen; diese Erlasse, wie so oft in den letzten Monaten hastig zusammengeschrieben, bewirken aber in der aktuellen Form nur zweierlei:

Für einige Schülerinnen und Schüler und nicht zuletzt für viele Eltern hat Schule längst einen Büfett-Charakter bekommen: Was nicht schmeckt, wird liegengelassen; gleichzeitig dürfen aber gerne Distanz- und Video-Unterrichts-Häppchen gereicht werden, wenn man es nicht zu Tisch schafft. Und wenn der Teller nicht ganz leer wird, wird dezent abgedeckt, die Rechnung wagt niemand zu bringen.

Und für die Schülerinnen und Schüler aus den bildungsferneren Familien, die schon in der ersten Phase unter der Schließung von Schule am stärksten gelitten haben, wird es besonders übel ausgehen. Denn mit ihnen wird wieder niemand zuhause bearbeiten, was Schule nicht verlangt.

Ein vergiftetes Geschenk.

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